Dmitrij Nikolaevič Kudrjavskij (de)
Im Rahmen von wissenschaftsgeschichtlich orientierten Arbeiten zur Entwicklung quantitativer Verfahren in der russischen Sprachwissenschaft wird in mehreren Fällen auf die Pionierarbeiten von Dmitrij Nikolaevič Kudrjavskij (1867-1820) verwiesen (vgl. Papp 1966, Kempgen 1995, Grzybek/Kelih 2004). Die Originalität und die inhaltliche Breite seiner Arbeiten legen es nahe, näher auf die sprachwissenschaftlichen und insbesondere statistischen Arbeiten dieses russischen Wissenschaftlers einzugehen.
Erste statistische Arbeit von D.N. Kudrjavskij zur Statistik von Verb-Formen in der Laurentiuschronik aus dem Jahr 1909
Vor einer detaillierten inhaltlichen Darstellung der Arbeiten Kudrjavskijs sind vorweg einige bibliographische Eckpunkte seines wissenschaftlichen Werdeganges (vgl. Smirnov 1971) zu nennen: Nach dem Studium an der historisch-philologischen Fakultät in Sankt Peterburg (1885-1891) und Aufenthalten in Deutschland wird Kudrjavskij 1898 als Ordinarius an die Universität von Jur’ev (ehemals Dorpat, heute: Tartu) auf den Lehrstuhl für deutsche und vergleichende Sprachwissenschaft berufen. Diese westlichste russische Universitätsstadt stellte in diesen Jahren einen Fokus von quantitativ orientierten linguistischen Arbeiten dar, lehrten und arbeiteten doch bedeutende Linguisten wie Baudouin de Courtenay und A.S. Budilovič an dieser Universität.
Für Kudrjavskij sind die Jahre seiner Professur in Jur’ev von einer hohen wissenschaftlichen Produktivität geprägt: Neben einer Reihe von Monographien wie beispielsweise Psichologija i jazykoznanie [Psychologie und Sprachwissenschaft] (Kudrjavskij 1904) und Vvedenie v jazykoznanie [Einführung in die Sprachwissenschaft] (Kudrjavskij 1912/1913)2 verfasst Kudrjavskij drei Artikel, die explizit auf der Anwendung statistischer Methoden basieren (vgl. Kudrjavskij 1909, 1911, 1912).
Abschließend zu seiner Biographie ist anzumerken, dass Kudrjavskij die Universität Jur’ev (Tartu) im Zuge der Wirren des Ersten Weltkrieges 1918 verlassen musste und mit der gesamten Belegschaft nach Voronež evakuiert wurde. Dort führte er seine Tätigkeit im Rahmen der neu geschaffenen Staatlichen Universität Voronež bis zu seinem Tod im Jahre 1920 fort.
In dem offensichtlich ersten verfassten Artikel aus dem Jahr 1909 mit dem Titel „K statistikě glagol’nych form v Lavrent’evskoj lětopisi“ [Zur Statistik von Verbformen in der Laurentiuschronik] zeichnet sich bereits eine bestimmte wissenschaftliche Grundlinie ab, die durch die explizite Notwendigkeit der Anwendung quantitativer Verfahren in der Sprachwissenschaft gekennzeichnet ist. Inhaltlich geht es um die Evolution der Verwendung von bestimmten Tempusformen im Altrussischen und Russischen. Wichtig erscheinen in diesem Zusammenhang vor allem die methodologischen Reflexionen zur Anwendung von statistischen Methoden in der Sprachwissenschaft:
„[...] čto statističeskij metod daet vozmožnost' otmětit' javlenija, obyknovenno uskol'zajuščija ot vnimanija islědovatelja. Meždu těm po charakteru svoemu ėti javlenija otličajutsja universal'nost’ju, tak kak massovyja nabljudenija zachvatyvajut samuju atmosferu žizni jazyka.“ [… dass die statistische Methode die Möglichkeit einräumt, Phänomene zu registrieren, die gewöhnlich der Aufmerksamkeit des Forschers entgehen. Unterdessen zeichnen sich jedoch diese Phänomene durch Universalität aus, da eine Massenbeobachtung doch die ganze Atmosphäre der Sprache umfasst] (Kudrjavskij 1909: 53).
2 Interessant ist die Tatsache, dass dieses Standardwerk der russischen “vorrevolutionären“ Sprachwissenschaft offensichtlich Stalin als inhaltliches Vorbild beim Verfassen seiner Beiträge zur Sprachwissenschaft im Jahr 1950 diente (Ende der ’Neuen Lehre’ von N.Ja. Marr). Diese Hypothese, die sich indirekt auch in einer verstärkten Wiederkehr zu historisch-vergleichenden Arbeiten in der sowjetischen Linguistik der Jahre 1950-1956 nachweisen lässt, wird in Alpatov (1991: 185) unter Bezug auf V.A. Zvegincev vertreten.
Ausgehend von dieser programmatischen Aussage zur Anwendung von Statistik, die eben darauf hinausläuft, dass mit der Hilfe von Statistik sprachliche Phänomene sichtbar gemacht werden können, sieht Kudrjavskij einen weiteren Vorteil quantitativer Methoden darin, dass die untersuchten Phänomene nicht durch subjektive Wertungen erfasst werden, sondern einzig und allein durch „leidenschaftslose Zahlen“ (vgl. ebd., 1909: 54).
Inhaltlich wird in dieser Untersuchungen auf folgende Fragestellungen eingegangen: Auf der Basis eines von ihm erstellten vollständigen Verzeichnisses von Verbalformen aus der 1377 erschienenen Laurentius-Chronik (Lavrent’evskaja letopis’) geht er der Vorkommenshäufigkeit von Aorist-, Imperfekt- und Partizipialformen nach. Die Häufigkeit dieser Formen wird schrittweise pro 100 Zeilen der Chronik3 angeben, wobei der prozentuale Anteil im Anhang in der Form von Diagrammen dargestellt wird. Die unterschiedliche Häufigkeit von Temporalformen wird in Bezug zum jeweiligen Inhalt der Chronik gesetzt (Details dazu vgl. Kempgen 1995: 87f.). Seine umfangreichen Auszählungen bestätigen seine a priori formulierte Hypothese des Verschwindens der Aoristformen nicht; vielmehr zeigt sich, dass diese Form in der von ihm bearbeiteten Chronik mit einer konstanten Häufigkeit nachzuweisen ist. Insgesamt muss Kudrjavskij eingestehen, dass die von ihm präsentierten Resultate mehr Fragen als Antworten aufwerfen. Dennoch ist er von der Richtigkeit der von ihm angewandten Methode überzeugt, denn diese erste Untersuchung stellt dann den Ausgangspunkt für zwei weitere, ähnlich ausgerichtete Analysen dar.
3 Die Auszählungen sind – wie sich Kudrjavskij (vgl. 1909: 49) zurecht beklagt – sehr zeitintensiv und auf¬wendig: dazu investierte er nach eigenen Angaben eine Stunde pro Tag nur für das Auszählen und die Erstellung seines Verb-Index der gesamten Laurentiuschronik. Die Zeitintensivität von Auszählungen und Berechnungen ist wohl in der Tat als hemmender Faktor bei der Etablierung von quantitativen Verfahren anzusehen. Zumindest hat dies seine Gültigkeit bis zur Möglichkeit einer computer-gestüzten Analyse, die erst ab den sechziger Jahren einsetzte.
In dem 1911 publizierten Artikel „K istorii russkago prošedšago vremeni« [Zur Geschichte des russischen Präteritum] untersucht Kudrjavskij auf der Basis von der nunmehr um weitere altrussische Schriftdenkmäler (Slovo o polku Igorevě, Russkaja pravda u.a.) erweiterten Textbasis, ob in einer chronologischen Perspektive die Vorkommenshäufigkeit bestimmter Tempusformen zu beobachten ist. Insbesondere geht es um die Verwendung von Verbalpartizipien, welche sprachhistorisch im Altrussischen mit bzw. ohne das Kopulativverb „byti“ für die Bildung der Vergangenheitsform herangezogen wurden. Genau um die Verwendungshäufigkeit dieser Verbalform mit oder ohne Kopulativverb geht es Kudrjavskij. Als Datenbasis für diese Rekonstruktion des Verschwindens des Kopulativverbes wurden beachtliche 33.000 unterschiedliche Tempusformen ausgezählt, die als zufriedenstellende Stichprobe für die Lösung der zugrunde gelegten Fragestellung (vgl. Kudrjavskij 1911: 121) angesehen wird. Die Interpretation der einzelnen analysierten Handschriften bringt das Ergebnis, dass für das Altrussische ein sukzessives Verschwinden des Kopularverbums bei der Bildung der Vergangenheitsform nachzuweisen ist, wobei eine Ausnahme für die 1. und 2. Person Singular zu gelten scheint (vgl. Kudrjavskij 1911: 137ff.).
Eine weitere statistische Untersuchung ist in Kudrjavksij (1912) zu finden, wo die Vorkommenshäufigkeit des Partizips Präsens Aktiv mit der Endung –a (bzw. ja, y) im Altrussischen (Textbasis: Laurentiuschronik) untersucht wird. Die erhaltenen statistischen Auszählungen ergeben nach Kudrjavskij (1912: 397) folgendes Ergebnis: Das Partizip Präsens Aktiv mit der Endung auf –a zeigt im untersuchten Textmaterial eine äußerst geringe Vorkommenshäufigkeit (ca. 21%), während die palatalisierte Endung –ja im Laufe der Sprachgeschichte aufgrund von phonetisch motivierten Veränderungen häufiger vertreten ist (ca. 78% ).
Insgesamt sind die Arbeiten von Kudrjavskij als ein wichtiger Teilbereich der Vorgeschichte der Anwendung quantitativer Methoden in der russischen Sprachwissenschaft am Anfang des 20. Jahrhundert anzusehen. Es ist davon auszugehen, dass die Arbeiten von Kudrjavskij keineswegs methodologisch unbedarft sind, sondern als mustergültige sprachgeschichtliche Analysen zum altrussischen Verbsystem anzusehen sind. Folgende Merkmale sind dabei von hervorragender Bedeutung:
a.) Die Anwendung statistischer Verfahren ist auf die (einfache) Zählung von Tempusformen und auf die graphische Darstellung der Ergebnisse beschränkt. Diese Form der Anwendung von statistischen Methoden stellt für Kudrjavskij keinen Selbstzweck dar, sondern dient ihm als Ausgangspunkt für die Überprüfung von a priori formulierten linguistische Hypothesen. Die gewählte Textbasis ist nicht nur aufgrund der systematischen Auswahl, sondern vor allem auch aufgrund des Umfangs als einer der ersten russischen ’Korpusuntersuchungen’ innerhalb der Sprachwissenschaft zu verstehen.
b.) Insgesamt sieht Kudrjavskij seine Analysen nicht nur als eine Bestandsaufnahme sprachlicher Fakten, sondern es wird der Häufigkeit von linguistischen Formen eine erklärende Kraft zugesprochen: Im Rahmen der Untersuchung von russischen Adverbialpartizipien wird festgestellt (vgl. Kudrjavskij 1915: 12f.), dass Adverbialpartizipien sich vor allem aus Partizipien gebildet haben, die im Altrussischen eine hohe Verwendungshäufigkeit aufweisen. In diesem Sinne kann Kudrjavskij auch der Verdienst zugeschrieben werden, explizit das Häufigkeitskriterium (vgl. Meier 1961: 55) als erklärenden Faktor für Prozesse des Sprachwandels in die Diskussion eingebracht zu haben.
Abschließend lässt sich festhalten, dass diese ersten statistisch orientierten sprachwissenschaftlichen Arbeiten auf keine breitere Rezeption gestoßen sind. Trotzdem stellen diese Arbeiten eine bemerkenswerte empirisch-quantitative Herangehensweise bei der Lösung von Fragen der Sprachevolution und des Sprachwandels des Altrussischen dar. Darüber hinaus sind seine Überlegungen in jeder Weise als Pionierarbeiten der russischen quantitativen Linguistik zu sehen.
Literatur
- Alpatov, V.M.. 1991. Istorija odnogo mifa. Marr i Marrizm. Moskva: Nauka.
- Grzybek, P. & Kelih, E.. 2004. Zur Vorgeschichte quantitativer Ansätze in der russischen Sprach- und Literaturwissenschaft. In: Altmann, G.; Köhler, R. & Piotrowski, R. (Hrsg.). Quantitative Linguistik - Quantitative Linguistics. Ein internationales Handbuch/An International Handbook. New York: de Gruyter, 2004. [= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft]
- Kempgen, S.. 1995. Russische Sprachstatistik. Systematischer Überblick und Bibliographie. München. [= Vorträge und Abhandlungen zur Slavistik, Band 26]. München.
- Kudrjavskij, D.N.. 1904. Psichologija i jazykoznanie. Sankt Peterburg.
- Kudrjavskij, D.N.. 1912. Vvedenie v jazykoznanie. Jur’ev.
- Kudrjavskij, D.N.. 1913. Vvedenie v jazykoznanie. Izdanie 2. Ispravlennoe i dopolnennoe. Jur’ev.
- Kudrjavskij, D.N.. 1909. K statistike glagol’nych form v Lavrent’evskoj letopisi, in: Izvestija otdelenija russkago jazyka i slovesnosti Imperatorskoj Akademii Nauk, t. XIV, č. 2, 49-56.
- Kudrjavskij, D.N.. 1911. K istorii russkago prošedšago vremeni. Russkij filologičeskij vestnik LXV, 119-139.
- Kudrjavskij, D.N.. 1912. Vvedenie v jazykoznanie.'* Jur’ev.
- Kudrjavskij, D.N.. 1912. Drevne-russkija pričastija nastojaščago vremeni dejstvitel’nago zaloga na –a. Russkij filologičeskij vestnik LXVIII, 119-139.
- Kudrjavskij, D.N.. 1916. K istorii russkich děepričastij. Vypusk 1. Děepričastija prošedšago vremeni. [= Učenye zapiski Imperatorskago Jur’evskogo Universiteta, XXIV]
- Meier, G. F.. 1961. Das Zéro-Problem in der Linguistik. Kritische Untersuchung zur strukturalistischen Analyse der Relevanz sprachlicher Form. Berlin: Akademie Verlag. [= Schriften zur Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationswissenschaft, Nr. 2]
- Papp, F.. 1966. Mathematical Linguistics in the Soviet Union. [= Janua Linguarum, Series Minor, XL]. The Hague: Mouton.
- Smirnov, S.V.. 1971. Iz istorii jazykoznanija. Dmitrij Nikolaevič Kudrjavskij (1867-1920), Russkaja reč' 3. 137-145.
Quelle
Emmerich Kelih: Glottometrics 8, 2004, 79-89