Difference between revisions of "Wallonisch, Lothringisch, Champagnisch und Burgundisch"
(Anfang des Artikels) |
(Teil I des Artikels. Teil II und II sind in Arbeit) |
||
Line 6: | Line 6: | ||
Das Champagnische (frz. ''le champenois'') wird auf dem Gebiet der französischen Region Champagne-Ardenne und in der Brie verortet. Es besteht ein kleines champagnisches Überlappungsgebiet in der Südwallonie. Der lothringische Dialektraum (frz. ''le lorrain'') schließt im Osten an den champagnischen an, findet sich aber auch in einer bestimmten, mit ''gaumais'' bezeichneten Varietät in der südostlichen Wallonie. Man findet lothringische Dialekte in allen westlichen Départements der Region Lorraine und im westlichen Teil des Départements Moselle. Das Burgundische (frz. ''le bourguignon'') erstreckt sich über die Regionen Bourgogne und Franche-Comté und grenzt damit jeweils südlich an Champagnisch und Lothringisch an (Taverdet: 654). | Das Champagnische (frz. ''le champenois'') wird auf dem Gebiet der französischen Region Champagne-Ardenne und in der Brie verortet. Es besteht ein kleines champagnisches Überlappungsgebiet in der Südwallonie. Der lothringische Dialektraum (frz. ''le lorrain'') schließt im Osten an den champagnischen an, findet sich aber auch in einer bestimmten, mit ''gaumais'' bezeichneten Varietät in der südostlichen Wallonie. Man findet lothringische Dialekte in allen westlichen Départements der Region Lorraine und im westlichen Teil des Départements Moselle. Das Burgundische (frz. ''le bourguignon'') erstreckt sich über die Regionen Bourgogne und Franche-Comté und grenzt damit jeweils südlich an Champagnisch und Lothringisch an (Taverdet: 654). | ||
− | ''' | + | '''Anmerkung:''' |
Gilles Roques zählt zur französischen nordöstlichen Gruppe das Pikardische, das Champagnische, das Burgundische, den Dialekt der Franche-Comté, das Lothringische und das Wallonische (Roques: 185), während Taverdet mit dem Oberbegriff „östliche Dialekte“ das Burgundische, das Champagnische und das Lothringische einschliesst; das Wallonische wird gesondert als nördlicher Dialekt behandelt. | Gilles Roques zählt zur französischen nordöstlichen Gruppe das Pikardische, das Champagnische, das Burgundische, den Dialekt der Franche-Comté, das Lothringische und das Wallonische (Roques: 185), während Taverdet mit dem Oberbegriff „östliche Dialekte“ das Burgundische, das Champagnische und das Lothringische einschliesst; das Wallonische wird gesondert als nördlicher Dialekt behandelt. | ||
Line 23: | Line 23: | ||
Lothringisch | Lothringisch | ||
Burgundisch | Burgundisch | ||
+ | |||
+ | '''3. Geolinguistische Lokalisierung''' | ||
+ | |||
+ | Sowohl im Norden als auch im Osten der Dialektgruppe können die Grenzen ihrer Ausprägung relativ klar gezogen werden, denn sie stimmen mit der romanisch-germanischen Sprachgrenze überein: Im Norden ist es das Flämische, auf der Ostseite deutsche Dialekte. | ||
+ | In Belgien wird diese Sprachgrenze politisch gestützt durch die regionale Zweiteilung des Staates, während im Osten die linguistische Grenze nicht allerorts mit der politischen zusammenfällt. Bei der Grenzziehung ist es wichtig, nicht von der heutigen Ausbreitung der Nationalsprache, sondern vom Vorhandensein eines dialektalen Substrats in einer Gegend auszugehen. Somit gehört die gesamte Region Elsass zum germanischen Sprachgebiet, das sich auch über den östlichen Teil des Départements Moselle erstreckt. Weiter südlich, im Elsass, folgt die Linie dem Verlauf der Vogesen, die historisch ein geographisches Hindernis sprachlichen Austausches bildeten (Taverdet: 654). | ||
+ | |||
+ | Im Südosten befindet sich der frankoprovenzalische Sprachraum, der Übergang ist jedoch sehr diffus, so dass es ein breites Band von Zwischendialekten gibt, die sowohl frankoprovenzalische Merkmale, als auch Merkmale der langues d’oïl aufweisen. Die Mundart von Mâcon ( frz. ''le mâconnais'') ist ein Beispiel dafür. Der Isoglossenfächer durchzieht die Départements Saone-et-Loire, Jura und Doubs (ebd.: 655). | ||
+ | |||
+ | Noch unauffälliger gestaltet sich der Übergang der östlichen Dialekte zum sogennanten ''dialektfreien Zentrum'', d.h. dem erweiterten Einflussgebiet der Ile-de-France. Durch die Systemnähe mit der franzischen langue d’oïl, gepaart mit deren Status als Nationalsprache, stehen die restlichen langues d’oïl der ''Franzisierung'' ungehindert entgegen. Besonders im champagnischen Dialektraum nehmen die distinktiven Merkmale zwischen Nationalsprache und Varietät nach Westen hin immer mehr ab. Die Aufnahme franzischer Merkmale in eine bestimmte Varietät kann man räumlich als ''Franzisierungslinien'' (ebd.: 656) darstellen, d.h Isoglossen, die das angepasste Gebiet vom Widerstand leistenden Gebiet trennen. Seit der Standardisierung des Franzischen dringen die Franzisierungslinien immer weiter nach Osten vor. | ||
+ | |||
+ | '''4. Untergliederung(sansätze)''' | ||
+ | |||
+ | Die dialektologische Erfassung der östlichen Dialekte begann in Frankreich erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der Erstellung von regionalen Sprachatlanten. Henri Bourcelot ist mit seinem ''Atlas linguistique et ethnographique de la Champagne et de la Brie'' (ALCB), dessen erster Band 1966 erschien, der Vorreiter und festigt die Korrelation von sprachlichen Tatbeständen und politisch-administrativer Realität. Andererseits fasst er das Champagnische und den Dialekt der Brie, die sich hauptsächlich in der Region Ile-de-France befindet, zusammen. Auch die Autoren der Regionalatlanten von Lothringen, Burgund und Franche-Comté setzen sich politisch bedingte Grenzen (Taverdet: 654). | ||
+ | |||
+ | Den Sonderfall der Franche-Comté - die Tatsache dass ihr Dialekt so oft mit dem Lothringischen und noch öfter mit dem Burgundischen in einem Atemzug genannt wird, aber trotzdem abseits steht - kann man durch ihre Position als Schnittmenge von drei Sprachräumen (lothringisch, burgundisch, frankoprovenzalisch) erklären. In Ermangelung eines Inventars, das typische Merkmale dieser Mundart zu denen anderer abgrenzt, wird das ''franc-comtois'' lediglich als Sammelbegriff sehr disparater ''patois'' verwendet und ist nur Objekt punktueller Untersuchungen, z.B. ''Les parlers comtois d’oïl'' von Colette Dodaine (1972). Das zeigt auch, dass die dialektalen Grenzen nicht so einfach zu ziehen sind, wie es die Regionalatlanten glauben machen. In den meisten Fällen ist es einfacher, gemeinsame als distinktive Merkmale unter den Dialekten zu finden; dennoch wird vielerorts nochmals unterteilt in lokale Varianten . Z.B. um das Einzugsgebiet eines Ortes, wie das ''patois messin'' um die lothringische Gemeinde Luttange (Richard: 173) oder anhand einer geographisch abgegrenzten Gegend, wie die ''langue morvandelle'' (Taverdet: 669), die Mundart des Mittelgebirgszug Morvan im Burgund. | ||
+ | |||
+ | Dass es lokale Untervarietäten der vier untersuchten Dialekte gibt, ist sehr wahrscheinlich, aber da die Vergleichsbasis zum Dachdialekt fehlt und der Gebrauch der lokalsprachlichen Eigenheiten stark abnimmt, kann solch eine Einteilung nicht wissenschaftlich eindeutig sein. | ||
+ | |||
+ | '''5. Sprachstatus und Sprachbewusstsein''' | ||
+ | |||
+ | Weder in Belgien noch in Frankreich konnte einer der Dialekte den Status einer koiné erlangen, da das Franzische als Verwaltungssprache direkt das Lateinische ablöst. Im Falle des Wallonischen kann der Begriff der ''koiné'' zeitlich und thematisch beschränkt auf den Kulturbereich im 19. und 20. Jahrhundert angewendet werden. (Vgl. dazu Piron, Maurice (1979): ''Anthologie de la littérature dialectale de Wallonie''. Lüttich : Mardaga.) | ||
+ | |||
+ | Daraus wird erkenntlich, dass das Wallonische der am stärksten mit sprachlichem Regionalpatriotismus behaftete Dialekt der östlichen langues d’oïl ist, was geschichtlich und anhand der belgischen Staatsräson verständlich gemacht werden kann. Auf französischem Staatsgebiet erreichen Heimat- und Kulturvereine als Träger der Sprachbewahrung kaum regionales Prestige und das Bewusstsein eines über das ''patois'' hinausgehenden regionalen Dialektbegriffs ist nur in akademischen Kreisen präsent. Auch hier sei auf den Zentralismus der französischen Nationalideologie verwiesen. Dadurch herrschte über Jahrhunderte hinweg eine Diglossiesituation vor, in der das prestigebehaftete Franzisch vor allem in Städten und innerhalb der oberen sozialen Schichten gesprochen wurde, während das ''patois'' auf bäuerlichem Niveau erhalten blieb und einen negativen Anklang hatte (Lefebvre: 264). | ||
+ | |||
+ | '''Anmerkung:''' Etwas größere Bedeutung kann der Heimatvereinigung des Morvan zugeschrieben werden, deren Mitglieder –sei es wegen relativer Homogenität aufgrund ihrer Lage fernab der wichtigen Handelswege, sei es aufgrund des akademischen Interesses an ihrer traditionell gebliebenen Mundart – die Ernennung ihres Dialekts zu einer eigenständigen Regionalsprache fordern (Taverdet: 669). | ||
+ | |||
+ | '''6. Vitalität''' | ||
+ | |||
+ | Aus der Schwierigkeit der Systemabgrenzung zwischen den verschiedenen Dialekten in Frankreich folgt die Problematik der Sprecherzahl. Hinzu kommt die Unmöglichkeit einer objektiven Einschätzung, ab welchem Verwendungs- oder Fähigkeitsgrad eine Person als Dialektsprecher oder ''patoisant'' bezeichnet werden kann. Reicht dazu passives Verständnis oder das Ausschmücken vom Standardfranzösischen mit einigen Dialektismen aus (Taverdet: 669)? | ||
+ | Dennoch gibt es Angaben von Dialektforschern, die eine Mischung aus eigener Einschätzung und Umfragen sind: Nach Taverdet, dem Autor des ''Atlas linguistique et éthnographique de Bourgogne'', gab es 1977 noch rund 50 000 Sprecher einer Varietät des Burgundischen. Vom Champagnischen ist allerdings weithin bekannt, dass sich keine Informanten mehr finden lassen, ist es doch der am stärksten franzisierte Dialekt der östlichen Dialektgruppe. Will man seine Eigenheiten untersuchen, muss man auf Toponymie zurückgreifen (Lefebvre: 280-281, Taverdet: 656). | ||
+ | |||
+ | Für die Situation in Belgien verfügen wir über etwas klarere Angaben, allerdings sagen sie nichts über die Gesamtzahl der Wallonischsprecher aus, sondern nur über das Verhältnis von Standardsprache und Dialekt im Alltag: Ende der 70er Jahre sprechen in der Gemeinde Purnode, die im Sprachgebiet des Namurer Wallonisch liegt, 43% gewohnheitsmäßig wallonisch und 15% verstehen kein wallonisch (Germain/Pierret: 599). | ||
+ | |||
+ | Für keinen der behandelten Dialekte finden sich jedoch noch einsprachige Informanten, d.h. Sprecher, die nicht des Französischen mächtig sind. |
Revision as of 11:16, 16 March 2010
Begriffliche Einordnung
1.Terminologie
Der Sammelbegriff östliche Dialekte der langue d’oïl verweist auf ein Varietätenkontinuum im nördlichen Teil des galloromanischen Sprachgebiets, das sich durch linguistische Charakteristika einerseits von der französischen Standardsprache (Franzisch) abgrenzen und andererseits zu einer Gruppe zusammenfassen lässt. Zur Erklärung dieser Charakteristika werden außersprachliche (geographische und historische) Eigenheiten der Regionen herangezogen. Das Inventar der Dialekte wird innerhalb der Romanistik je nach Forschungsschwerpunkt anders vorgenommen bzw. hierarchisiert. Hier soll zwischen vier Untergruppen unterschieden werden: Wallonisch, Champagnisch, Burgundisch und Lothringisch. Der Begriff Wallonisch (frz. le wallon) ist irreführend, denn er bezeichnet einen der Dialekte, die in der gleichnamigen Wallonie gesprochen werden; es besteht also Polysemie, die auch eine politisch-regionale Bedeutung einschließt: Wallone ist jeder, der in der Wallonie beheimatet ist, obschon er nicht wallonisch spricht. In der Linguistik weicht man daher auf die beiden Varietäten des Wallonischen aus und spricht von Lütticher und Namurer Wallonisch (frz. wallon liégeois, wallon namurois). Auf wallonischem Boden findet man auch Varietäten des Pikardischen, des Champagnischen und des Lothringischen (Germain/Pierret: 595-596). Das Champagnische (frz. le champenois) wird auf dem Gebiet der französischen Region Champagne-Ardenne und in der Brie verortet. Es besteht ein kleines champagnisches Überlappungsgebiet in der Südwallonie. Der lothringische Dialektraum (frz. le lorrain) schließt im Osten an den champagnischen an, findet sich aber auch in einer bestimmten, mit gaumais bezeichneten Varietät in der südostlichen Wallonie. Man findet lothringische Dialekte in allen westlichen Départements der Region Lorraine und im westlichen Teil des Départements Moselle. Das Burgundische (frz. le bourguignon) erstreckt sich über die Regionen Bourgogne und Franche-Comté und grenzt damit jeweils südlich an Champagnisch und Lothringisch an (Taverdet: 654).
Anmerkung: Gilles Roques zählt zur französischen nordöstlichen Gruppe das Pikardische, das Champagnische, das Burgundische, den Dialekt der Franche-Comté, das Lothringische und das Wallonische (Roques: 185), während Taverdet mit dem Oberbegriff „östliche Dialekte“ das Burgundische, das Champagnische und das Lothringische einschliesst; das Wallonische wird gesondert als nördlicher Dialekt behandelt.
2. Sprachgenetische Einordnung
Indogermanische Sprachen >
Romanische Sprachen >
Galloromanische Sprachen >
Langues d’oïl >
Wallonisch Champagnisch Lothringisch Burgundisch
3. Geolinguistische Lokalisierung
Sowohl im Norden als auch im Osten der Dialektgruppe können die Grenzen ihrer Ausprägung relativ klar gezogen werden, denn sie stimmen mit der romanisch-germanischen Sprachgrenze überein: Im Norden ist es das Flämische, auf der Ostseite deutsche Dialekte. In Belgien wird diese Sprachgrenze politisch gestützt durch die regionale Zweiteilung des Staates, während im Osten die linguistische Grenze nicht allerorts mit der politischen zusammenfällt. Bei der Grenzziehung ist es wichtig, nicht von der heutigen Ausbreitung der Nationalsprache, sondern vom Vorhandensein eines dialektalen Substrats in einer Gegend auszugehen. Somit gehört die gesamte Region Elsass zum germanischen Sprachgebiet, das sich auch über den östlichen Teil des Départements Moselle erstreckt. Weiter südlich, im Elsass, folgt die Linie dem Verlauf der Vogesen, die historisch ein geographisches Hindernis sprachlichen Austausches bildeten (Taverdet: 654).
Im Südosten befindet sich der frankoprovenzalische Sprachraum, der Übergang ist jedoch sehr diffus, so dass es ein breites Band von Zwischendialekten gibt, die sowohl frankoprovenzalische Merkmale, als auch Merkmale der langues d’oïl aufweisen. Die Mundart von Mâcon ( frz. le mâconnais) ist ein Beispiel dafür. Der Isoglossenfächer durchzieht die Départements Saone-et-Loire, Jura und Doubs (ebd.: 655).
Noch unauffälliger gestaltet sich der Übergang der östlichen Dialekte zum sogennanten dialektfreien Zentrum, d.h. dem erweiterten Einflussgebiet der Ile-de-France. Durch die Systemnähe mit der franzischen langue d’oïl, gepaart mit deren Status als Nationalsprache, stehen die restlichen langues d’oïl der Franzisierung ungehindert entgegen. Besonders im champagnischen Dialektraum nehmen die distinktiven Merkmale zwischen Nationalsprache und Varietät nach Westen hin immer mehr ab. Die Aufnahme franzischer Merkmale in eine bestimmte Varietät kann man räumlich als Franzisierungslinien (ebd.: 656) darstellen, d.h Isoglossen, die das angepasste Gebiet vom Widerstand leistenden Gebiet trennen. Seit der Standardisierung des Franzischen dringen die Franzisierungslinien immer weiter nach Osten vor.
4. Untergliederung(sansätze)
Die dialektologische Erfassung der östlichen Dialekte begann in Frankreich erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der Erstellung von regionalen Sprachatlanten. Henri Bourcelot ist mit seinem Atlas linguistique et ethnographique de la Champagne et de la Brie (ALCB), dessen erster Band 1966 erschien, der Vorreiter und festigt die Korrelation von sprachlichen Tatbeständen und politisch-administrativer Realität. Andererseits fasst er das Champagnische und den Dialekt der Brie, die sich hauptsächlich in der Region Ile-de-France befindet, zusammen. Auch die Autoren der Regionalatlanten von Lothringen, Burgund und Franche-Comté setzen sich politisch bedingte Grenzen (Taverdet: 654).
Den Sonderfall der Franche-Comté - die Tatsache dass ihr Dialekt so oft mit dem Lothringischen und noch öfter mit dem Burgundischen in einem Atemzug genannt wird, aber trotzdem abseits steht - kann man durch ihre Position als Schnittmenge von drei Sprachräumen (lothringisch, burgundisch, frankoprovenzalisch) erklären. In Ermangelung eines Inventars, das typische Merkmale dieser Mundart zu denen anderer abgrenzt, wird das franc-comtois lediglich als Sammelbegriff sehr disparater patois verwendet und ist nur Objekt punktueller Untersuchungen, z.B. Les parlers comtois d’oïl von Colette Dodaine (1972). Das zeigt auch, dass die dialektalen Grenzen nicht so einfach zu ziehen sind, wie es die Regionalatlanten glauben machen. In den meisten Fällen ist es einfacher, gemeinsame als distinktive Merkmale unter den Dialekten zu finden; dennoch wird vielerorts nochmals unterteilt in lokale Varianten . Z.B. um das Einzugsgebiet eines Ortes, wie das patois messin um die lothringische Gemeinde Luttange (Richard: 173) oder anhand einer geographisch abgegrenzten Gegend, wie die langue morvandelle (Taverdet: 669), die Mundart des Mittelgebirgszug Morvan im Burgund.
Dass es lokale Untervarietäten der vier untersuchten Dialekte gibt, ist sehr wahrscheinlich, aber da die Vergleichsbasis zum Dachdialekt fehlt und der Gebrauch der lokalsprachlichen Eigenheiten stark abnimmt, kann solch eine Einteilung nicht wissenschaftlich eindeutig sein.
5. Sprachstatus und Sprachbewusstsein
Weder in Belgien noch in Frankreich konnte einer der Dialekte den Status einer koiné erlangen, da das Franzische als Verwaltungssprache direkt das Lateinische ablöst. Im Falle des Wallonischen kann der Begriff der koiné zeitlich und thematisch beschränkt auf den Kulturbereich im 19. und 20. Jahrhundert angewendet werden. (Vgl. dazu Piron, Maurice (1979): Anthologie de la littérature dialectale de Wallonie. Lüttich : Mardaga.)
Daraus wird erkenntlich, dass das Wallonische der am stärksten mit sprachlichem Regionalpatriotismus behaftete Dialekt der östlichen langues d’oïl ist, was geschichtlich und anhand der belgischen Staatsräson verständlich gemacht werden kann. Auf französischem Staatsgebiet erreichen Heimat- und Kulturvereine als Träger der Sprachbewahrung kaum regionales Prestige und das Bewusstsein eines über das patois hinausgehenden regionalen Dialektbegriffs ist nur in akademischen Kreisen präsent. Auch hier sei auf den Zentralismus der französischen Nationalideologie verwiesen. Dadurch herrschte über Jahrhunderte hinweg eine Diglossiesituation vor, in der das prestigebehaftete Franzisch vor allem in Städten und innerhalb der oberen sozialen Schichten gesprochen wurde, während das patois auf bäuerlichem Niveau erhalten blieb und einen negativen Anklang hatte (Lefebvre: 264).
Anmerkung: Etwas größere Bedeutung kann der Heimatvereinigung des Morvan zugeschrieben werden, deren Mitglieder –sei es wegen relativer Homogenität aufgrund ihrer Lage fernab der wichtigen Handelswege, sei es aufgrund des akademischen Interesses an ihrer traditionell gebliebenen Mundart – die Ernennung ihres Dialekts zu einer eigenständigen Regionalsprache fordern (Taverdet: 669).
6. Vitalität
Aus der Schwierigkeit der Systemabgrenzung zwischen den verschiedenen Dialekten in Frankreich folgt die Problematik der Sprecherzahl. Hinzu kommt die Unmöglichkeit einer objektiven Einschätzung, ab welchem Verwendungs- oder Fähigkeitsgrad eine Person als Dialektsprecher oder patoisant bezeichnet werden kann. Reicht dazu passives Verständnis oder das Ausschmücken vom Standardfranzösischen mit einigen Dialektismen aus (Taverdet: 669)? Dennoch gibt es Angaben von Dialektforschern, die eine Mischung aus eigener Einschätzung und Umfragen sind: Nach Taverdet, dem Autor des Atlas linguistique et éthnographique de Bourgogne, gab es 1977 noch rund 50 000 Sprecher einer Varietät des Burgundischen. Vom Champagnischen ist allerdings weithin bekannt, dass sich keine Informanten mehr finden lassen, ist es doch der am stärksten franzisierte Dialekt der östlichen Dialektgruppe. Will man seine Eigenheiten untersuchen, muss man auf Toponymie zurückgreifen (Lefebvre: 280-281, Taverdet: 656).
Für die Situation in Belgien verfügen wir über etwas klarere Angaben, allerdings sagen sie nichts über die Gesamtzahl der Wallonischsprecher aus, sondern nur über das Verhältnis von Standardsprache und Dialekt im Alltag: Ende der 70er Jahre sprechen in der Gemeinde Purnode, die im Sprachgebiet des Namurer Wallonisch liegt, 43% gewohnheitsmäßig wallonisch und 15% verstehen kein wallonisch (Germain/Pierret: 599).
Für keinen der behandelten Dialekte finden sich jedoch noch einsprachige Informanten, d.h. Sprecher, die nicht des Französischen mächtig sind.