Judenromanisch

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Die judenromanischen Sprachen

1. Allgemeine Überlegungen

1.1 Der Begriff des Judenromanischen

Als Judenromanisch bezeichnet man romanische Sprachen, oder Varietäten romanischer Sprachen, die von Juden unter bestimmten sozialen und historischen Gegebenheiten gesprochen werden oder wurden.

Unter dem Sammelbegriff des Judenromanischen werden unterschiedliche linguistische Realitäten zusammengefasst:

Es ist zu unterscheiden zwischen Sprachen mit einer klar definierten Struktur (Judenspanisch) und Sprachen mit nicht klar definierter Struktur (Judenfranzösisch, Judenprovenzalisch, Judenkatalanisch, Judenportugiesisch, Judenitalienisch). Außerdem gliedern sich die Judenromanischen Sprachen in solche, die außerhalb des Sprachgebietes der Basissprache gesprochen werden (Judenspanisch, Judenportugiesisch) und Sprachen, die auf dem Gebiet der Basissprache gesprochen werden, bzw. wurden (Judenfranzösisch, Judenprovenzalisch, Judenkatalanisch, Judenitalienisch). Manche Sprachen existieren heute noch in gesprochener Form (Judenspanisch, Judenitalienisch), andere existieren nur noch in der Überlieferung und werden heute nicht mehr gesprochen (Judenfranzösisch, Judenprovenzalisch, Judenkatalanisch, Judenportugiesisch).

Bereits in dieser kurzen Ausführung sticht das Judenspanische durch seine besondere Stellung heraus. Als einzige romanische Judensprache verfügt es über eine festgelegte Struktur und wird auch heute noch außerhalb des spanischen Sprachraums in einigen Gebieten der Erde gesprochen (Sala: 1998, 372).

1.2 Die Verbreitung der judenromanischen Sprachen

Das Judenspanische ist heute hauptsächlich in Nordafrika verbreitet. Der dort gesprochene Dialekt wird auch als Hakitia bezeichnet. In Israel und in der Türkei droht das Judenspanische zu verschwinden. In diesen beiden Ländern findet eine Verdrängung durch Ivrith bzw. durch das Türkische statt. Außerdem leben heute in Griechenland, Bulgarien, Bosnien und Herzegowina, Mazedonien, USA und Frankreich Sprecher des Judenspanischen. Das Judenitalienische wurde und wird zum Teil auch heute noch in einigen italienischen Städten und Provinzen gesprochen. In diesen Gebieten besteht das Judenitalienische heute vor allem in einigen Ausdrücken und Wörtern, die es von den christlichen Dialekten dieser Regionen unterscheiden. Im Gegensatz dazu stehen die Sprachen, die heute nicht mehr gesprochen werden, wie das Judenportugiesische, das in ehemaligen portugiesischen Kolonien, wie v. a. Amsterdam, Hamburg und Livorno gesprochen wurde. Bereits seit dem 15. Jahrhundert, in Folge der Vertreibung der Juden aus Frankreich im 14. Jahrhundert, nicht mehr gebräuchlich ist das Judenfranzösische, das im Mittelalter von in Frankreich ansässigen Juden gesprochen wurde. Im Süden Frankreichs war zu jener Zeit das Judenprovenzalische in der Region des Comtadin in der Nähe von Avignon um Carpentras verbreitet. Im benachbarten katalanischen Gebiet wurde Judenkatalanisch gesprochen.

(Auf der [Jewish Language Research Website] findet sich eine hilfreiche Karte, die die weltweite Verbreitung sowohl der judenromanischen Sprachen, als auch sämtlicher weiterer Judensprachen grafisch darstellt.)


1.3 Der Charakter des Judenromanischen und die Abgrenzung der einzelnen judenromanischen Sprachen voneinander

Wie bereits aus Punkt 1.1 hervorgeht, verfügen die meisten judenromanischen Sprachen, mit Ausnahme des Judenspanischen, über keine klare Struktur. So wurden die kuriosen Eigenheiten des Judenfranzösischen nie genau definiert und laut Banitt (1963, 245) handele es sich bei dieser Sprache um eine sogenannte langue fantôme, also eine Geistersprache, deren Status als eigene Sprache er kritisiert. Er vertritt die Ansicht, es handele sich bei dem Judenfranzösischen lediglich um einen Dialekt, der mit der französischen Sprache zum größten Teil identisch sei und sich vor allem dadurch von dieser abgrenze, dass sich der Wortschatz verstärkt aus der Sprache der armen Leute bilde, dem Jargon mit dem die in Frankreich lebenden Juden am meisten in Kontakt kamen und dem in den Judenromanischen Sprachen allgemein sehr bedeutenden hebräischen Element. Weinrich bezeichnete deshalb die Judenromanischen Sprachen als Fusionssprachen (fusion languages), die vor allem durch den bedeutenden Einfluss des Hebräischen gekennzeichnet sind (Weinrich: 1956, 403-404). Diese Theorie findet sich später ebenfalls bei Wexler.

Das Judenportugiesische wird heute lediglich durch einige Wörter repräsentiert, die noch in der Sprache einiger Bewohner der alten portugiesischen Kolonien in Umlauf sind. Diese Überreste der judenportugiesischen Sprache finden sich vor allem in Amsterdam, Hamburg und Livorno.

Judenitalienisch wurde in verschiedenen italienischen Städten und Provinzen gesprochen. Wie oben bereits erwähnt, besteht es heute in den Besonderheiten fort, die es von den Dialekten der Christen unterscheiden, die in denselben Regionen Italiens gesprochen werden.

Diese Sprachen werden bisweilen wie das Judenfranzösische als Phantomsprachen bezeichnet, die wie fast unbemerkt neben den in den Ländern üblichen Sprachen existieren/existierten (Sala: 1998, 375). Sie sind romanische Sprachen, die mit einer gewissen „Färbung“ von Juden gesprochen werden, die sie zu einer bestimmten Epoche gebrauchten, ohne eindeutige sprachliche Regeln festzulegen und die der jeweiligen romanischen Sprache untergeordnet sind. Es handelt sich folglich um eine Art soziale Varietät der jeweiligen romanischen Sprache.

Einen Spezialfall stellt das Judenspanische dar. Es wird in Regionen gesprochen, in denen Spanisch niemals Mutter-/oder Geschäftssprache war und es heute immer noch nicht ist, deshalb ist das Judenspanische heute weiter von seiner Ursprungssprache entfernt als die anderen judenromanischen Sprachen und hat zu seiner eigenen Form gefunden. Im Gegensatz zum auf der iberischen Halbinsel gesprochenen Spanisch entwickelte sich das Judenspanische nach der Vertreibung der sephardischen Juden aus Spanien in einer alloglotten Umgebung weiter und es kam zur Herausbildung einer eigenen Norm.

Das Judenspanische wird heute noch in vielen Regionen der Erde gepflegt und stellt eine entwicklungsgeschichtliche Varietät des Spanischen dar.

1.4 Zum Ursprung der judenromanischen Sprachgruppe

Bis heute stellt die Rekonstruktion der Entstehung der judenromanischen Sprachen ein Problem dar, da mangels Quellen immer noch zu wenige Aussagen über die Frühzeit dieser romanischen Varietäten gemacht werden können. Den Ursprung der judenromanischen Sprachen betreffend, stoßen wir also auf zwei konträre Meinungen. Zum einen gibt es Wissenschaftler, die annehmen, dass alle judenromanischen Sprachen über einen gemeinsamen Ursprung verfügen. Nämlich eine Art Judenlatein, das von Juden zum Verfassen von Bibeltexten verwendet wurde. Diese Hypothese wurde zum ersten Mal 1925 von David Simon Blondheim vorgebracht, der einen engen Zusammenhang zwischen biblischen Glossen französischer Juden und Bibelübersetzungen der spanischen Juden sah. Als Essenz seiner Theorie sah Blondheim die Schlussfolgerung, dass die existierenden judenromanischen Sprachen von einem Judenlatein abstammte, das sich parallel zu den jeweiligen romanischen Sprachen, im Falle des Judenfranzösischen also parallel zum Französischen entwickelt hatte. Diese Theorie wurde später vielfach aufgegriffen und s1956 von Weinrich ausgebaut. Hier werden die judenromanischen Sprachen Als Jewish Languages of Romance Stock bezeichnet, was den romanischen Ursprung unterstreicht (Weinrich: 1956, 406). Diese Hypothese wird heute von Romanisten jedoch nicht mehr unterstützt.

Vielmehr ist man heute der Ansicht, dass es sich bei den judenromanischen Sprachen um Varietäten der jeweiligen romanischen Sprachen handelt. Diese These wurde bereits 1896 von Max Grünbaum aufgestellt und später in der Fachwelt vielfach diskutiert und erweitert (siehe Sala: 1998, 373). Außerdem wird hinsichtlich des Ursprungs des Judenspanischen zwischen Ladino als reiner Schriftsprache und Djudezmo als gesprochener Sprache unterschieden. Diese beiden Varianten verfügen zwar über einen gemeinsamen Wortschatz und eine gemeinsame Morphologie, unterscheiden sich jedoch hinsichtlich ihrer Syntax.

1.5 Die Einordnung der judenromanischen Sprachen im Bezug zu anderen Judensprachen (v.a. dem Jiddischen)

Die Gemeinsamkeiten der judenromanischen Sprachen mit den anderen Judensprachen bestehen v. a. in den hebräisch-aramäischen Komponenten und in der von derselben hebräischen Schrift abgeleiteten Orthographie all dieser Sprachen.

Das bedeutendste Thema der jüdischen Interlinguistik ist der Vergleich des Djudezmo mit dem Jiddischen hinsichtlich des Umgangs mit hebräischen Wörtern in beiden Sprachen.

Hier fallen Ähnlichkeiten im Bereich der Phonetik auf. So werden e und i in hebräischen Wörtern zu a, wenn sie vor einem x oder r stehen (hebr. yexezkel > djud. xaskél, jid. khaskl/khastskl). Außerdem entfällt der nasale Konsonant am Wortende. Stattdessen wird der vorherige Vokal nasaliert (hebr. šimón > djud. šimỡ, jid. šim).

Im lexikalischen Bereich trifft man auf Unterschiede sowie Gemeinsamkeiten. So ist z.B. das Lexem garon dem Djudezmo geläufig, dem Jiddischen hingegen nicht. Das Lexem mekakh ist jedoch dem Jiddischen bekannt und existiert im Djudezmo nicht, sowie balebós im Jiddischen existiert, wohingegen sich balabay in allen Varianten des Djudezmo findet, usw.

Auch in der Semantik lassen sich Unterschiede erkennen. Im Djudezmo hat xasid die Bedeutung ein ‘frommer Mensch’ und ‘gerecht’; jiddisch khosed heißt hingegen ‘Anhänger’ oder ‘Bewunderer’.

Im Bereich der Grammatik fällt besonders der Unterschied ins Auge, dass hebräische Wörter im Djudezmo die Endungen -ozo, -uzo (z.B. mazaluzo) erhalten, während das Wort im Jiddischen in der Regel auf -dik endet.


Literaturhinweise: BANITT, Menahem, Une langue fantôme: le judéo-français, RLiR 27 (1963), S. 245-294.

BUSSE, Winfried, Zur Problematik des Judenspanischen, Neue Romania 12 (1991), S. 37-84.

SALA, Marius, Die romanischen Judensprachen / Les langues judéo-romanes (Art. 476), Lexikon der Romanischen Linguistik (LRL) Bd.7, hrsg. von Günter Holtus, Michael Metzeltin, Christian Schmitt, Tübingen 1998, S. 372-395.

WEINREICH, Max, The Jewish languages of Romance stock and their relation to earliest Yiddish, RPh 9 (1956), S. 403-428.

WEXLER, Paul, The Balkan subratum of Yiddish. A Reassessment of the Unique Romance and Greek Components (Mediterranean language and culture monograph series; Vol. 9), Wiesbaden 1992.