Gottfried Wilhelm Leibniz (de)

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Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-??) war ein deutscher Universalgelehrter, der nicht unbedeutende Beiträge zur Sprachwissenschaft lieferte.

Leben

Leibniz wurde 1646 in Leipzig geboren, studierte 1661-66 in Leipzig und Jena und promovierte mit seiner Dissertatio de arte combinatoria in Altdorf.

Leibniz war ein vielseitiger Gelehrter mit Schwerpunkten in Mathematik, Physik und Philosophie, befasste sich aber auch mit verschiedenen sprachwissenschaftlichen Themen, darunter Überlegungen zur Universalsprache, zu Sprachwandel und -verwandtschaft (Finster & van den Heuvel 42000: 89f.; Gardt 1999: 135ff.; Naumann 1966; von der Schulenburg 1973. Für linguistische Themen bei Leibniz ist Doucet-Rosenstein 1981 wenig ergiebig.).

Bedeutung für die quantitative Linguistik

Für die Quantitative Linguistik ist Leibniz mit kombinatorischen Überlegungen bedeutsam, die zu seiner Zeit bereits eine lange und vielfältige Tradition haben (Eco 1997: 148ff., 278ff.; Gardt 1994: 211ff., Gardt 1999: 139ff.; Schmidt 1966: 51) und in die arabische Mathematik (Djebbar 1981: 55, 125)1 und noch weiter bis in die Kabbala (Überlieferung) des 2.-4. Jahrhunderts zurückreichen (Eco 1997: 41; Strasser 1988: 60). Die ältesten Quellen für die Anwendung kombinatorischer Überlegungen auf sprachliche Gegenstände scheinen Xenokrates (4. Jhd. vor Chr.) und in der Hindu-Tradition Pingala (ca. 200 v. Chr.) zu sein (Biggs 1979: 113f.). Verschiedene Richtungen des kombinatorischen Verfahrens charakterisiert Eco (1997: 80f.) wie folgt: „Aber was das kabbalistische Denken vom Denken Lulls unterscheidet, ist, daß in der Kabbala die Kombination der Buchstaben Realitäten nicht widerspiegelt, sondern hervorbringt. Die Wirklichkeit, die der kabbalistische Mystiker aufdecken muß, ist noch nicht bekannt und enthüllt sich nur durch das Buchstabieren der Lettern in schwindelerregenden Permutationen. Lulls Kombinatorik hingegen ist ein rhetorisches Mittel, durch das bewiesen werden soll, was schon bekannt ist...“ Die Kombinatorik steht also im Dienst unterschiedlicher Zielsetzungen. Linguistisch interessant ist dabei die Tatsache, dass sie auch für Wortbildung und Texterzeugung eingesetzt wurde (Gardt 1999: 141). Harsdörffers Fünffacher Denckring der Teútschen Sprache (Harsdörffer 1651/ 1990: 517) enthält in fünf Ringen Wortbestandteile, die man gegeneinander drehen kann, wobei jede Kombination ein anderes „Wort“ ergibt, worunter sich natürlich viele im Deutschen nicht belegte „blinde oder deutungslose“ Formen befinden (Hundt 2000: 281ff.). Leibniz nahm diesen Denckring zum Anlass, um auszurechnen, wie viele Ausdrücke sich damit bilden lassen (Strasser 1988: 237). Mit Beginn des 17. Jahrhunderts wird ein weiterer Aspekt erneut thematisiert, den bereits Xenokrates (Biggs 1979: 113) und später die Araber behandelten (Djebbar 1981), indem gefragt wird, wie viele Ausdrücke mit einem vorhandenen Alphabet gebildet werden können, „unabhängig davon, ob sie einen Sinn haben und aussprechbar sind“ (Eco 1997: 149). Knobloch (1973: 78) charakterisiert diese Entwicklung unter Bezugnahme auf den Mathematiker und Theologen Marin Mersenne (1588-1648) und andere Autoren damit, „daß insbesondere zur Zeit MERSENNEs die Gesamtheit aller möglichen und aussprechbaren Wahrheiten in Verbindung mit kombinatorischen Studien berechnet wurde.“

1Dank an Prof. Benno Artmann, Göttingen, für den Hinweis.

Die genannten Strömungen bilden den Hintergrund für Leibniz‘ eigene Bemühungen um die Kombinatorik. In seiner Dissertatio de arte combinatoria (1666; 1962: 61) stellte er u.a. Überlegungen dazu an, wie viele Wörter man bilden kann, wenn man ein Alphabet von 24 Buchstaben zur Verfügung hat und die gebildeten Ausdrücke selbst höchstens 24 Buchstaben lang sein sollen; es sind über 620 Trilliarden. Allerdings gibt es in den Sprachen der Welt auch Wörter, die mehr als 24 Buchstaben lang sind, und es gibt Sprachen, die mehr als nur 24 Buchstaben aufweisen (Eco 1997: 279; Pott 1884: 19f.). Entsprechend erweitert sich die Zahl der durch Kombination zu bildenden Ausdrücke. (Die Dissertatio de arte combinatoria wird von Knobloch 1973: 23ff. ausführlich unter mathematischen Gesichtspunkten dargestellt und kommentiert.) In De l’horizont de la doctrine humaine (Fichant 1991: 50ff.) befasst Leibniz sich mit der Frage, wie viele Sätze man mit einem begrenzten Alphabet bilden kann; es ergibt sich eine Menge, welche die gesamte Menschheit nicht verarbeiten könnte. Leibniz‘ Überlegungen hierzu entwickelt und kommentiert wiederum Knobloch (1973: 81ff.) und resümiert: „LEIBNIZ will in ihnen zeigen, daß die Zahl der wahren und falschen Aussagen, die Menschen machen können, und daher auch die Zahl der herstellbaren Bücher begrenzt ist, daß also nach einer wenn auch gewaltigen Zeitspanne alles bereits einmal gesagt sein muß und nur noch Wiederholungen möglich sind, kurz daß der menschliche Geist begrenzt ist. Er steht damit freilich im Gegensatz zu seiner eigenen, an anderer Stelle überlieferten Bemerkung [...], daß schon die Zahl der ersten propositiones unendlich ist...“ (S. 83).

Diese Hinweise zeigen, dass Leibniz mit seinen kombinatorischen Überlegungen in einer großen Tradition steht, deren mathematische Genese Knobloch (1973: 1ff.) behandelt. Sie erlebt im Barock einen neuen Höhepunkt, wobei es um ganz unterschiedliche Themen geht, darunter um das Problem der Entwicklung einer Universalsprache, um die Wortbildung, die Kryptologie und um literarische Aspekte wie die Bildung von Anagrammen und Proteus-Versen.

Proteus-Verse bestehen überwiegend aus einsilbigen Wörtern und lassen daher „ungewöhnlich viele Umstellungen [...] zu, ohne daß die metrischen Gesetze verletzt werden“ (Knobloch 1973: 39). Leibniz (1666/ 1962: 65) zitiert ein deutsches Beispiel aus Harsdörffer (1653/ 1990), das man durch Umstellung der 11 einsilbigen Substantive und Verben in 39916800 Formen bringen könne:

„Ehr, Kunst, Geld, Guth, Lob, Weib und Kind
Man hat, sucht, fehlt, hofft und verschwind.“

Werke

Leibniz, G. W. (1666/ 1962). Dissertatio de arte combinatoria. In: Leibniz, G. W. (1962), Mathematische Schriften, Hrsg. v. C. I. Gerhard. Bd. V: Die mathematischen Abhandlungen (S. 1-79). Hildesheim: Olms.

Literatur

Biggs, N.L. (1979). The Roots of Combinatorics. Historia Mathematica 6, 109-136.

Djebbar, A. (1981). Enseignement et recherche mathématiques dans le Maghreb des XIIIe - XIVe siècles (étude partielle). Université de Paris-Sud, Département de Mathématique (= Publications mathématiques d’Orsay, no 81-02).

Doucet-Rosenstein, D. (1981). Die Kombinatorik als Methode der Wissenschaften bei Raimund Lull und G.W. Leibniz. Diss. phil., München.

Eco, U. (1997). Die Suche nach der vollkommenen Sprache. München: dtv.

Fichant, M. (Hrsg.) (1991). Gottfried Wilhelm Leibniz. DE L’HORIZONT DE LA DOCTRINE HUMAINE (1693). ´Apokatástasis pánton (La Restitution Universelle) (1715). Textes inédits, traduits et annotés. Paris: Librairie Philosophique J. Vrin.

Finster, R., van den Heuvel, G. (42000). Gottfried Wilhelm Leibniz. Reinbek: Rowohlt.

Gardt, A. (1994). Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung. Entwürfe von Böhme bis Leibniz. Berlin/New York: de Gruyter.

Gardt, A. (1999). Geschichte der Sprachwissenschaft in Deutschland. Vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Berlin/New York: de Gruyter.

Harsdörffer, G. P. (1651/1990). Delitiae Mathematicae et Physicae. Der Mathematischen und Philosophischen Erquickstunden Zweyter Teil. Neudruck der Ausgabe Nürnberg 1651 herausgegeben und eingeleitet von Jörg Jochen Berns. Frankfurt/Main: Keip.

Harsdörffer, G. P. (1653/1990). Delitiae Mathematicae et Physicae. Der Mathematischen und Philosophischen Erquickstunden Dritter Theil. Neudruck der Ausgabe Nürnberg 1653 herausgegeben und eingeleitet von Jörg Jochen Berns. Frankfurt/Main: Keip.

Hundt, M. (2000). „Spracharbeit“ im 17. Jahrhundert. Studien zu Georg Philipp Harsdörffer, Justus Georg Schottelius und Christian Gueintz. Berlin/ New York: de Gruyter.

Knobloch, E. (1973). Die mathematischen Studien von G. W. Leibniz zur Kombinatorik. Auf Grund fast ausschließlich handschriftlicher Aufzeichnungen dargelegt und kommentiert. Wiesbaden: Franz Steiner Verlag.

Naumann, B. (1966). Die Tradition der Philosophischen Grammatik in Deutschland. In: Schmitter, Peter (Hrsg.), Sprachtheorien der Neuzeit II (S. 24ff.). Tübingen: Narr.

Pott, A. F. (1884). Einleitung in die allgemeine Sprachwissenschaft. Internationale Zeitschrift für allgemeine Sprachwissenschaft 1 (= Techmers Zeitschrift): 1-68.

Schmidt, F. (1966). Zeichen und Wirklichkeit. Stuttgart: Kohlhammer.

Strasser, G. F. (1988). Lingua Universalis. Kryptologie und Theorie der Universalsprachen im 16. und 17. Jahrhundert. Wiesbaden: In Komm.: Harrassowitz.

Schulenburg, S. von der (1973). Leibniz als Sprachforscher. Mit einem Nachwort herausgegeben von Kurt Müller. Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann (lt. Vorwort, VII, entstanden zwischen 1929 und 1939).

Quelle

Karl-Heinz Best: Glottometrics 9, 2005, 75-89