Kaj Brynolf Lindgren (de)

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Kaj Brynolf Lindgren (4.12.1822-17.11.2007) war finnischer Professor für Germanistische Philologie und führte linguistische Untersuchungen durch, die zur Vorgeschichte des Piotrowski-Gesetzes zu zählen sind.

Leben

Geb. 4.12.1922, Varkaus (Finnland). Studium der Germanistik, Nordistik und Psychologie ab 1944 in Helsinki und Zürich; Promotion 1953 in Helsinki, Habilitation 1957. Ab 1954 Lektor für Deutsch an der Wirtschaftshochschule Helsinki, ab 1962 Assoz. Prof. für Germanistik und 1964-1989 o. Prof. für Germanische Philologie am Germanistischen Institut der Universität Helsinki. (Nach: Kürschner 1994, 550.) Gest. 17.11.2007 in Helsinki.

Bedeutung für die Quantitative Linguistik

Lindgren taucht in der Quantitativen Linguistik – soweit ich das übersehe – nur ein einziges Mal auf, in diesem Fall mit seiner Untersuchung zur e-Apokope im Deutschen, in der er am Rande auch auf die e-Epithese eingeht (Imsiepen 1983). Dies wird seiner Bedeutung nicht ganz gerecht, gehört er doch eindeutig in die Vorgeschichte des Sprachwandelgesetzes, das in der Quantitativen Linguistik seit Altmann (1983) auch unter dem Namen Piotrowski-Gesetz geläufig ist. Seine umfangreichen Datenerhebungen sowohl zur Apokope als auch zur Diphthtongierung in mittelhochdeutscher und anfangs der frühneuhochdeutschen Zeit gipfeln u.a. darin, dass er die Entwicklungen in Graphiken darstellt und dabei erkennt, dass sie einen prinzipiell gleichen Verlauf nehmen; diesen Verlauf stellt er dann in einer „idealisierte(n) Kurve“ (Lindgren 1961: 55) dar, die genau dem abnehmenden (Lindgren 1953: 185) oder zunehmenden Verlauf (Lindgren 1961: 56) des Piotrowski-Gesetzes für den vollständigen Sprachwandel entspricht. Er ist sich auch bewusst, dass er damit in der Linguistik auf ein Phänomen gestoßen ist, das in der Mathematik allgemein bekannt ist und dort eine Interpretation erfährt, die sich leicht auf sprachliche Entwicklungen übertragen lässt (Lindgren 1961: 57). Nachdem Lindgren so weit gekommen ist, fehlt nur noch der Versuch, solche Phänomene mathematisch zu modellieren und das dann entwickelte Modell an seinen eigenen Daten zu überprüfen. Einen Ansatz dazu, aber ohne Durchführung, findet man bei Hakkarainen (1983), der auf Lindgrens idealisierte Kurven hinweist und in (Hakkarainen 1983, 29, Fußnote 17) auf eine mathematische Herleitung des Modells unter Einbeziehung speziell sozialer Bedingungen durch Dodd (1953) verweist. Auch Hakkarainen bedient sich des Modells mehr aus dem Wunsch heraus, seinen Vorstellungen, dass nämlich Diffusion und Sprachwandel prinzipiell gleich verlaufen, Anschaulichkeit zu verleihen; ein Test des Modells an Diffusionsdaten fehlt bei ihm jedoch ebenfalls. Am Beispiel von Lindgrens Untersuchung zur neuhochdeutschen Diphthongierung soll gezeigt werden, dass das auch mit Erfolg geschehen kann. Dabei handelt es sich um die Ersetzung von [î] durch [ai], von [û] durch [au] und von [iu] durch [öu], Prozesse, die sich in der Zeit zwischen 1100 und 1500 abspielen. Die Daten dazu hat Lindgren durch Auszählen vieler Texte gewonnen; sie werden in einer umfangreichen Tabelle (Lindgren 1961: 15-17) in 50-Jahres-Schritten aufgeführt, getrennt nach Dialekten (Bairisch, Ostfränkisch, Schwäbisch, Böhmisch, Südfränkisch und Ostmitteldeutsch). Für die einzelnen 50-Jahres-Schritte werden für einen Dialekt Daten aus 1 – 6 Texten präsentiert. Speziell für das Bairische gibt Lindgren Ergebnisse aus 1 – 4 Texten an. Die Auswertung hat nun gezeigt, dass der Einfluss einzelner Texte mit vom Gesamtprozess stark abweichendem Sprachgebrauch zu sehr ins Gewicht fällt. Lindgren (1961: 24) bemerkt selbst, dass die beiden Texte der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts einen stark abweichenden Sprachgebrauch zeigen und vermutet daher für sie eine Herkunft von der Südseite der Alpen. Aus diesem Grund wurden alle Daten für ganze Jahrhunderte zusammengefasst. Es ergaben sich damit für das Bairische Tabellen mit Daten aus 5 Jahrhunderten, in allen anderen Fällen aus nur 3 Jahrhunderten oder noch weniger. Dies ist der Grund, weshalb hier nur bairische Daten berücksichtigt werden. Das Modell, das hier zu prüfen ist, ist das Gesetz für den vollständigen Sprachwandel

(1) <math>p=\frac{100}{1+ae^{-bt}}</math>

(Altmann 1983: 60). Die folgenden Tabellen enthalten Lindgrens Daten für das Bairische, auf Jahrhunderte umgerechnet, mit einer Anpassung von Modell (1). Die Anpassungen wurden mit der Software NLREG durchgeführt; die Ergebnisse zeigen, dass die Diphthongierung – wie viele andere Sprachwandel auch – gesetzmäßig verläuft. Die Graphiken zeigen, dass Lindgrens Annahme über den idealen Verlauf des Prozesses sich auch rechnerisch ergibt.

Die Ergebnisse:

Tabelle 1 Ausbreitung der Diphthongierung im Bairischen

Lindgrentabelle1.jpg

Erläuterung zu den Tabellen:

ft: beobachtete Vorkommen der betreffenden Einheit: relative Werte; pt: aufgrund des Modells (1) für den vollständigen Sprachwandel berechnete Vorkommen; t: für die Berechnung festgelegter Zeitabschnitt, beginnend mit t = 1 für das 12. Jahrhundert; a, b: Parameter; D: Determinationskoeffizient.

Der Determinationskoeffizient soll das Testkriterium D ≥ 0.80 erfüllen; er kann höchstens den Wert D = 1.00 erreichen und ist umso besser, je näher er an diese Grenze herankommt. Die drei in Tabelle 1 angegebenen Anpassungen des Modells erweisen sich damit als sehr gut. Die folgende Graphik zeigt den berechneten Verlauf der drei Diphthongierungsprozesse im Vergleich zueinander:

Lindgren1.jpg

Graphik zu Tabelle 1: dünne, durchgezogene Linie: [û] → au]; starke durchgezogene Linie: [iu] → [öu]; Pluszeichenlinie: [î] → [ai]. Auf die beobachteten Werte wurde verzichtet, um die Graphik nicht zu überfrachten.

Die folgende Tabelle fasst alle drei Diphthongierungsprozesse zusammen:

Tabelle 2 Ausbreitung der Diphthongierung im Bairischen

Lingrentabelle2.jpg

Lindgren2.jpg

Graphik zu Tabelle 1: Gesamtprozess der Diphthongierung im Bairischen. Die Punkte stellen die beobachteten Werte dar.

Man kann also abschließend feststellen, dass sowohl die einzelnen Diphthongierungen als auch der Gesamtprozess sich gesetzmäßig verhalten. Es müsste deutlich geworden sein, dass Lindgren zu den Philologen gehört, die der Sprachstatistik und der Quantitativen Linguistik dadurch einen Dienst erwiesen haben, dass sie aufwendige Datenarbeit durchführten. Er gehört auf jeden Fall zu den Vorläufern derjenigen, die das Sprachwandelgesetz herleiteten; er war sich bewusst, dass seine Forschungen im Ergebnis mit dem logistischen Modell der Mathematik übereinstimmen und brachte dies früher und deutlicher als manche andere zum Ausdruck:

„Es handelt sich um eine sog. regelmäßige Summenkurve, die in der Statistik eine grosse Rolle spielt. Sie ergibt sich prinzipiell in einem Fall folgender Art: Innerhalb einer Menge von Einzelgegenständen tritt an einem Punkt eine Änderung ein. Die Gegenstände stehen in Berührung mit ihren jeweiligen Nachbarn, so dass die an einem Einzelgegenstand vollzogene Änderung dieselbe Änderung an den benachbarten hervorruft. Diese wirken wiederum auf ihre Nachbarn ein usw., bis alle Gegenstände erfasst sind. Zuerst greift die Änderung nur langsam um sich, da sie von einem einzigen Punkt ausstrahlt, dann immer schneller, da immer mehr bewirkende Punkte vorhanden sind. Nachdem mehr als die Hälfte erfasst ist, wird die Entwicklung langsamer, weil jeweils auf einige Nachbarn schon früher von anderer Seite aus Einfluss wirkte, bis schließlich nur einige entlegene Punkte übrig bleiben, die ganz spät erfasst werden. Wenn wir diese allgemeinen Überlegungen auf die Sprachentwicklung anwenden, kommen wir zu folgendem Bild: In einem begrenzten, einheitlichen Sprachraum tritt die Tendenz zu einer Änderung der Aussprache auf. Sie führt zunächst dazu, dass ein Wort oder eine eng zusammengehörende Wortgruppe in der neuen Weise ausgesprochen wird. Diese Wörter sind durch Analogie mit anderen verbunden, und das verursacht, dass dieselbe Änderung auch in diesen eintritt. Ausgehend von diesen breitet sich die neue Lautung weiter aus, bis schließlich alle Wörter mit den nämlichen phonetischen Bedingungen erfasst sind“ (Lindgren 1961: 57).

Die Beschreibung des Sprachwandelvorgangs findet sich in ähnlicher Weise bereits in (Lindgren 1953: 181/185), verbunden mit dem „Idealbild“ des Verlaufs. Von Hakkarainen (1983) erfährt man, dass in der Soziologie bereits vor längerer Zeit ein solches Modell mathematisch hergeleitet und überprüft wurde.

Der nächste, noch ausstehende und im Grunde abschließende Schritt, der Versuch einer mathematischen Modellierung sprachlicher Entwicklungsprozesse und einer Überprüfung des Modells unter Berücksichtigung speziell linguistischer Bedingungen, blieb Piotrovskaja & Piotrovskij (1974) und in Weiterführung dieses Ansatzes Altmann (1983) sowie Altmann u.a. (1983) vorbehalten. Besonders Altmann (1983) mit seinen drei Modellen für unterschiedliche Sprachwandeltypen war der Auslöser für eine Vielzahl entsprechender, erfolgreicher Untersuchungen. Man darf jetzt konstatieren, dass innersprachlicher Wandel, Entlehnungen, Spracherwerb und Veränderungen im Sprachverhalten immer wieder diesen Sprachgesetzen folgen. Am Anfang dieser Entwicklung hin zum Sprachwandelgesetz stand allem Anschein nach Lindgren mit seinen Untersuchungen zum Deutschen – lange Zeit wenig bekannt für diese Pioniertat.

Literatur

  • Altmann, Gabriel (1983). Das Piotrowski-Gesetz und seine Verallgemeinerungen. In: Best, Karl-Heinz, & Kohlhase, Jörg (Hrsg.) (1983). Exakte Sprachwandelforschung: 54-90. Göttingen: edition herodot.
  • Altmann, G.., von Buttlar, H., Rott, W., & Strauß, U. (1983). A law of change in language. In: Brainerd, B. (ed.), Historical linguistics: 104-115. Bochum: Brockmeyer.
  • Dodd, Stuart C. (1953). Testing message diffusion in controlled experiments: charting the distance and time factors in the interactance hypothesis. American Sociological Review 18, 410-416.
  • Hakkarainen, Heikki J. (1983). Sprachliche Veränderungen als Diffusion von Innovationen. Neuphilologische Mitteilungen 84, 25-35.
  • Imsiepen, Ulrike (1983). Die e-Epithese bei starken Verben im Deutschen. In: Best, K.-H., Kohlhase, J. (Hrsg.), Exakte Sprachwandelforschung (S. 119-141). Göttingen: edition herodot.
  • Lindgren, Kaj B. (1953). Die Apokope des mhd. –e in seinen verschiedenen Funktionen. Helsinki (= Suomalainen tiedeakatemian toimituksia/ Annales academiae scientiarum fennicae; Sarja/ Ser. B, Nide/ Tom. 78,2)
  • Lindgren, Kaj B. (1961). Die Ausbreitung der nhd. Diphthongierung bis 1500. Helsinki (= Suomalainen tiedeakatemian toimituksia/ Annales academiae scientiarum fennicae; Sarja/ Ser. B, Nide/ Tom. 123,2)
  • Piotrovskaja, A.A., & Piotrovskij, R.G. (1974). Matematičeskie modeli diachronii i tekstoobrazovanija. In: Statistika reči i avtomatičeskij analiz teksta (S. 361-400). Leningrad: Nauka.

Zu Lindgren

  • Kürschner, Wilfried (Hrsg.) (1994). Linguisten-Handbuch. Biographische und bibliographische Daten deutschsprachiger Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler der Gegenwart. Bd. 1: A-L. Tübingen: Gunter Narr Verlag.
  • Verzeichnis der wissenschaftlichen Schriften von K.B. Lindgren. In: Neuphilologische Mitteilungen 84/ 1983: 1-7.

Software

  • NLREG. Nonlinear Regression Analysis Program. Ph. H. Sherrod. Copyright (c) 1991 - 2001.

Für biographische Informationen danke ich Jouni Heikkinen, Germanistisches Institut der Universität Helsinki.

Quelle

Karl-Heinz Best: Glottometrics 16, 2008