Kohärenz
Kohärenz ist ein zentraler Begriff der Textlinguistik, der sich auf den Textzusammenhang bezieht. Sie ist der einem Text zugrundeliegende Sinn.
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Kohärenz wird in den verschiedenen Modellen der Textlinguistik in unterschiedlicher Weise erklärt, jedoch immer als Kriterium für Textualität aufgefasst. In verschiedenen Phasen der Entwicklung sind die unterschiedlichen Auffassungen darüber, wie Textkohärenz zu definieren ist, kennzeichnend für wechselnde Schwerpunkte in der textlinguistischen Forschung.
Zu Beginn der textlinguistischen Entwicklung wurden alle die Satzgrenzen überschreitenden Beziehungen zwischen sprachlichen Einheiten (ausgedrückt z. B. durch Proformen, Konjunktionen) der Kohärenz zugerechnet. (Diese Phänomene werden heute vielfach unter dem Begriff Kohäsion zusammengefasst.) Später wurde als Kohärenz der inhaltlich-logische Zusammenhang in einem Text bezeichnet. Seit Anfang der 8Oer Jahre bezieht sich der Begriff Kohärenz fast immer auf den einem ganzen Text zugrundeliegenden Sinnzusammenhang (einschließlich des durch den Text aktivierten Wissens) bzw. auf das Ergebnis kognitiver Prozesse in der Textverarbeitung.
Beispiele für die Veränderungen im Verständnis von Kohärenz
1. Zu Beginn der Forschung auf dem Gebiet der Textlinguistik bezieht sich im transphrastischen Ansatz ( z. B. Isenberg 1974) der Kohärenzbegriff lediglich auf die syntaktisch-semantischen Beziehungen zwischen benachbarten Sätzen, z. B.
- auf Referenzbeziehungen zwischen einzelnen sprachlichen Ausdrücken, auf anaphorische oder kataphorische Verweisung (z. B. durch Proformen und durch Artikelselektion),
- auf Verknüpfungsrelationen zwischen den Propositionen benachbarter Sätze (z. B. verdeutlicht durch Konjunktionen).
Diese transphrastischen syntaktisch-semantischen Zusammenhänge im Text werden später häufig unter dem Begriff Kohäsion zusammengefasst (vgl. Halliday & Hasan 1976).
2. Bellert nennt als eine notwendige Bedingung für Kohärenz die Wiederholung (Bellert 1974: 216). Sie bezeichnet Textkonnektoren als sprachliche Indizes für Kohärenz,
- entweder mit direkter Referenzfunktion (z. B. Nomen, die auf außersprachliche Realität verweisen)
- oder mit indirekter Verweisung (z. B. Proformen, die sich auf vorangegangene Referenzträger beziehen) (225 ff).
Bellert führt im Zusammenhang mit Kohärenz den Begriff logico-semantische Struktur ein, der Folgerungen erfassen soll, Folgerungen sowohl aus dem Sprachsystem als auch aus bestimmten allgemeinen Regeln des Denkens (215).
3. Für Schmidt ist Kohärenz die Konsequenz aus einer dem Text zugrundeliegenden Tiefenstruktur, die vor allem thematisch zu bestimmen ist als geordnete Menge thematischer Komplexe (Schmidt 1976 (1973): 234).
4. Kallmeyer u. a. erklären (unter Bezugnahme auf dialogische Texte), dass sich Kohärenz "aufgrund von Konnexionselementen, der thematischen Abgrenzung und des Interaktionszusammenhanges" ergebe (Kallmeyer u. a. 1974: 58).
5. Brinker unterscheidet 1979 drei Möglichkeiten, den Kohärenzbegriff zu differenzieren:
- die grammatische (syntaktisch-semantische),
- die thematische,
- die pragmatische Explikation des Kohärenzbegriffs (Brinker 1979: 6 ff).
1985 unterscheidet Brinker thematische Kohärenzbedingungen (Brinker 1992 (1985): 41 ff) und grammatische Kohärenzbedingungen (durch explizite und implizite Wiederaufnahme) (26 ff).
6. Beaugrande & Dressler sehen die Unterscheidung von Kohärenz und Kohäsion als unverzichtbar an (Beaugrande & Dressler 1981: 5, Anmerkung 5).
Sie berücksichtigen in ihrem prozeduralen Ansatz (32 ff) bei der Erklärung von Kohärenz sowohl textzentrierte als auch verwenderzentrierte Komponenten. Danach ist Kohärenz mit dem Sinn eines Textes gleichzusetzen; Sinn wird aufgefasst als tatsächlich durch Textausdrücke aktiviertes Wissen (8, Anmerkung 8). Unter textzentrierten Aspekten ist Kohärenz für Beaugrande & Dressler der dem Text zugrundeliegende Sinnzusammenhang (88). Unter verwenderzentriertem Aspekt fassen sie Kohärenz als Ergebnis kognitiver Prozesse der Textverwender auf, bei denen eigenes Wissen dem Textwissen hinzugefügt wird; Kohärenz ist so das Ergebnis der Bedeutungsaktualisierung, die den Zweck der ´Sinn-Erzeugung´ verfolgt (117).
7. Nach van Dijk & Kintsch, die zwischen lokaler und globaler Kohärenz unterscheiden, bezieht sich die lokale Kohärenz auf Relationen zwischen Propositionen und die globale Kohärenz auf den Text als Ganzes bzw. auf größere Teile des Textes (van Dijk & Kintsch 1983: 189).
Durch den Einfluss von Untersuchungsergebnissen der Kognitiven Linguistik (und der übrigen Kognitionswissenschaften) hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass Kohärenz nicht nur das Merkmal eines Textes, sondern das "Ergebnis einer Reihe von kognitiven Operationen" in der Textverarbeitung ist (Schwarz 1992 a: 159).
In ihrem systemtheoretischen Ansatz verstehen Strohner & Rickheit linguistische Kohärenz als Spezialfall allgemeiner Kohärenzphänomene, die sich als Zusammenhang in Systemen fassen lassen (Strohner & Rickheit 1990: 21). (Die Systemtheorie hat das Ziel, das Denken in Zusammenhängen mit einer konzeptuellen Grundlage zu versehen [. . .]. " (4)) Nach Strohner & Rickheit lässt sich Kohärenz auf den folgenden Ebenen feststellen:
- auf der Ebene der Kognition (Kohärenz innerhalb der Kenntnissysteme eines Individuums),
- auf der Ebene der Kommunikation (Kohärenz zwischen den Kommunikationspartnern),
- auf der Ebene der Sprache (Kohärenz zwischen den Textteilen) (4).
Aufgabe einer linguistischen Theorie der Kohärenz sei es, die Beziehungen zwischen diesen drei Ebenen zu untersuchen (4). Auf allen drei Ebenen umfasst Kohärenz nach Strohner & Rickheit die folgenden systemischen Aspekte:
- den tektonischen Aspekt der Integrität,
- den genetischen Aspekt der Kreativität (8 ff).
8. Nach Scherner dominiert Kohärenz die Kohäsionsbeziehungen und ist [. . .] auf der kognitiven Ebene als das entscheidende Kriterium für Textualität anzusehen [. . .] (Scherner 2000: 187)
Siehe auch
Textualität, rezeptive Textverarbeitung, Wissenssysteme, Kohäsion, Textsemantik, Textsinn, Transphrastik, Konnexion
Link
Eva Schoenke, Textlinguistik-Glossar
Literatur
- Bellert, Irena. 1974. Über eine Bedingung für die Kohärenz von Texten. In Lektürekolleg zur Textlinguistik. Kallmeyer, Werner u. a. (Hrsg.), 213-245 (englisch 1970. On a Condition of the Coherence of Texts. In Semiotica 2/70: 335-363).
- de Beaugrande, Robert-Alain und Wolfgang U. Dressler. 1981. Einführung in die Textlinguistik (= Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 28). Tübingen: Niemeyer.
- Brinker, Klaus. 1979. Zur Gegenstandsbestimmung und Aufgabenstellung der Textlinguistik. In Text vs Sentence. Basic Questions of Text Linguistics. Petöfi, János S. (ed.), 3-12.
- Brinker, Klaus. 1992. Textlinguistik. Heidelberg: Groos.
- van Dijk, Teun A. & Kintsch, Walter. 1983. Strategies of Discourse Comprehension. New York/London: Academic Press.
- Halliday, Michael Alexander Kirkwood & Hasan, Ruqaiya. 1976. Cohesion in English (= English Language Series 9). London: Longman.
- Isenberg, Horst. 1974. Überlegungen zur Texttheorie. In Lektürekolleg zur Textlinguistik. Kallmeyer, Werner u. a. (Hrsg.), Bd. 2, 193-212.
- Kallmeyer, Werner & Klein, Wolfgang & Meyer-Hermann, Reinhard & Netzer, Klaus & Siebert, Hans-Jürgen (Hrsg.) 1974. Lektürekolleg zur Textlinguistik. Band 1 Einführung. Band 2 Reader. Frankfurt: Athenäum. (2. Auflage 1977).
- Scherner, Maximilian. 2000. Kognitionswissenschaftliche Methoden in der Textanalyse. In Text- und Gesprächslinguistik / Linguistics of Text and Conversation. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung / An International Handbook of Contemporary Research 1. Halbbd. / Volume 1. Brinker, Klaus u. a. (Hrsg.), 186-195.
- Schmidt, Siegfried J. 1976. Texttheorie. Probleme einer Linguistik der sprachlichen Kommunikation (= UTB 202). 2. Auflage. München: Fink. (1. Auflage 1973).
- Schwarz, Monika. 1992. Einführung in die Kognitive Linguistik (= UTB 1636). Tübingen: Francke.
- Strohner, Hans & Rickheit, Gert. 1990. Kognitive, kommunikative und sprachliche Zusammenhänge: Eine systemtheoretische Konzeption linguistischer Kohärenz. In Linguistische Berichte 125/90, 3-23.